Kathrin Wildenberger - Zwischenland

Kathrin Wildenberger – Zwischenland

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Die Zeit zwischen zwei Ländern

In der zehnten Klasse meiner Schulzeit waren wir im Fach Geschichte endlich in der jüngsten Vergangenheit angekommen. Schuljahr für Schuljahr nahmen wir die Epochen der Geschichte durch. Als Einleitung für die anstehende Projektarbeit zu der Zeit 1989/1990 in Deutschland fragte unsere Geschichtslehrerin die eine Frage, die sie jedes Jahr zu der zehnten Klasse fragte: „An was könnt ihr euch an die Wende erinnern, hier in Ostdeutschland? “ Da auf diese Frage keiner die Hand hob, fragte sie noch einmal nach. Tja, wir Schüler blickten uns ratlos an und waren uns einig, dass wir uns nicht an die Wende erinnern könnten. Wir waren zur Wende um die 3 Jahre alt. Kann man da sich an etwas erinnern? Ich schon, aber das war eher ein Gefühl. Ein unterbewusstes Gefühl.

Um viel Gefühl geht es auch im „Zwischenland“ von Kathrin Wildenberger. Es ist die Fortsetzung der „Montagsnächte“, dass sich im Herbst 1989 in Leipzig spielt. Im Zwischenland geht es weiter um die Zeit bis 3. Oktober 1990. Die Zeit, als es die eigentlich DDR noch gab, aber eigentlich auch schon Westdeutschland war. Die Zeit zwischen den Ländern. Und in dieser wirren Zeit spielt dieses Buch. Wieder mit Ania, die leider von ihrer großen ersten Liebe Bernd verlassen wurde. Aber auch ihre kleine Schwester Brit und beste Freundin Suse kommen hier zu Wort. Alle drei erleben auf ihrer eigenen Art die Umbrüche, das Neue, die Liebe, Trauer. Keiner weiß, wie es weitergehen soll.

Kathrin Wildenberger - Zwischenland

Gemeinsame Basis und Rückzugsort für alle drei ist die Alternative Szene in Leipzig. Die besetzten Häuser bilden das friedliche Kleinod in der Welt der Wirrungen. Und eigentlich würde ich auch dort sofort mit einziehen. Inklusive der Bücherpension natürlich. à Zitat Bücherpension.

Die Charaktere sind alle drei liebevoll gezeichnet. Frauenpower. Ich würde gern mit allen drei Damen befreundet sein. Danke. Ania ist natürlich erwachsener geworden. Sie hat ja auch einiges durchgemacht in Montagsnächte. Bei ihr dreht sich alles um die Liebe und Freiheit. Sie möchte ihr Ding machen, und sich keines Wegs von Männern beeinflussen lassen. Trotzdem erlebt sie einiges Drama. Auch das von mir sehr gefürchtete Liebesdreieck artet hier absolut nicht aus. Die Autorin schafft es (wie auch im ersten Teil) diese Liebesbeziehung einfach normal aussehen zu lassen. Und das tut in einer Welt voller Dreiecksdramen richtig gut. Erfrischend gut sogar.

Ania muss hier aber auch die große und wegweisende Schwester für Brit spielen. Das tut Ania gut und Brit fühlt sich fern der Eltern eh sehr wohl. Als Schulschwänzerin und dem Gothic zugewandt, weiß auch sie nicht, was sie will. Doch Ania steht ihr bei, ohne den mahnenden Finger zu heben. Brit erlebt das, was Ania schon im ersten Teil durchmachte: das Verstehen des Umbruches. Suse hingegen flüchtete im Sommer 1989 in den Westen. Und ist nun dort mehr als unglücklich. Auch sie möchte sich verwirklichen. Ohne der Liebe wegen zurückzustecken. Auch sie erlebt wie Ania Männerdrama, aber auch sie findet ihren Weg.

Sozusagen kommen in diesem Buch die Frauen zu Wort. In unserer Zeit des schwelenden Feminismus und #metoo passt dieses Buch perfekt hinein. Drei Frauen, die einfach nur ihr Ding machen wollen. That’s it.

War der erste Teil Montagsnächte noch sehr kindlich mit Zielgruppe Jugendbuch geschrieben, erhält man mit Zwischenland die erwachsene Version. Man merkt, dass alle Szenen und Figuren gut durchdacht wurden aber auch, dass die Figuren einfach normal weiterleben können im zweiten Teil. Es wurde nicht zwanghaft ein großes Drama heraufbeschworen. Denn die drei Mädels können wahrscheinlich jedes Drama wuppen. Denn sie sind füreinander da. Egal wann und wo.

Schade ist eigentlich nur, dass Bernd, die große Liebe Anias so gar nicht in dem Buch vorkommt. Wie Ania wird der Leser darüber im Unklaren gelassen, warum Bernd einfach verschwindet. Ania versucht zwar weiterzuleben, aber bei dem kleinsten Funken auf einen Hinweis zu seinem Verschwinden ist sie wieder Feuer und Flamme für ihn. Und irgendwie auch glücklich, dass er seinen Weg geht. Glücklich auch, am 3. Oktober 1990 in eine neue Welt zu starten. Wo ihr alle Türen offenstehen. Und sie einfach ihr Ding weiter machen kann. Mit oder ohne Bernd.

Meine erste Erinnerung an die Wende ist der 3. Oktober 1990, das hoffnungsvolle Ende im Buch. Da gibt es ein Foto von mir und meinem Vater. Und ich erinnere mich sehr genau an dieses Gefühl. Auch wenn ich nicht bewusst die Wende erlebte, dieses Foto brannte sich in meine Erinnerungen. Ich verstand an diesem Tag die Welt nicht mehr. Diese Figuren machten mir Angst (und tun es im Übrigen heute noch). Ich dachte, ich müsste sterben. Ich tat es nicht. Bin froh, den Tag überlebt zu haben. Und froh, nicht in der DDR leben zu müssen (trotz des doch sehr holprigen Starts in das neue Deutschland).

Fotobeweis:

03-10-1990

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